Kürzung des Arbeitslosengeldes verfassungswidrig

Anfang November 2019 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die bislang aufgrund der entsprechenden Regelungen im Sozialgesetzbuch II (SGB II) gelebte Praxis der Kürzung des Arbeitslosengeldes II bei Pflichtverletzungen des Arbeitslosengeldempfängers verfassungswidrig ist.

 

Wichtig: Sind Sie Arbeitslosengeld-II-Bezieher und ist Ihnen gegenüber seitens des Jobcenters eine Sanktion in Form einer Kürzung Ihres Arbeitslosengeldes II erfolgt, sprechen Sie uns bitte umgehend an. Es sollte schnellstmöglich überprüft werden, ob die jeweiligen Bescheide rechtswidrig sind und erfolgreich angegriffen werden können.

Anfang November 2019 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die bislang aufgrund der entsprechenden Regelungen im Sozialgesetzbuch II (SGB II) gelebte Praxis der Kürzung des Arbeitslosengeldes II bei Pflichtverletzungen des Arbeitslosengeldempfängers verfassungswidrig ist.


Wie war die Ausgangslage?

Das SGB II sieht derzeit vor, dass grundsätzlich bei einer durch den Arbeitslosengeldbezieher begangenen Pflichtverletzung Kürzungen des Leistungsbezugs in Höhe von 30 Prozent und bei Wiederholung in Höhe von 60 Prozent durch das Jobcenter vorgenommen werden. Diese Kürzungen beziehen sich dabei auf den Teil des Arbeitslosengeldes, der den sogenannten Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts betrifft. Nicht betroffen sind die für Unterkunft und Heizung gewährten Leistungen.

Sofern auch danach eine weitere Pflichtverletzung erfolgt, ist allerdings die Einstellung der gesamten Arbeitslosengeld-II-Zahlung gesetzlich vorgesehen. Es fand also bislang eine 100-prozentige Kürzung statt.

Als Dauer der Minderungen ist per Gesetz jeweils ein 3-Monats-Zeitraum vorgesehen.


Was ist nun passiert?

Das Bundesverfassungsgericht hat jüngst mit Urteil vom 05.11.2019 entschieden, dass dies jedenfalls für bestimmte Arten der Pflichtverletzung verfassungswidrig ist. Die bislang gelebte Praxis der Jobcenter kann also in der jetzigen Form nicht fortgeführt werden, denn die gerichtliche Entscheidung hat in diesem Fall gemäß § 31 Abs. 2 S. 1, 3 BVerfGG Gesetzeskraft.


Welche Folgen hat das für Jobcenter und Arbeitslosengeld-II-Bezieher?

Sanktionen in Form von Kürzungen des Leistungsbezugs sind zwar nach wie vor zulässig. Insbesondere ist es rechtmäßig, 30-prozentige Kürzungen bei Pflichtverletzung vorzunehmen. Das BVerfG hat aber auch hier mit seiner Entscheidung - entgegen der gesetzlichen Regelung - in Härtefällen ein Absehen von Sanktionen eröffnet.

Auch dürfte das BVerfG Sanktionen, die über das Maß von 30 Prozent hinaus gehen, nicht generell für unzulässig gehalten haben. Die Urteilsbegründung sieht vielmehr durchaus die Rechtfertigung einer 60-prozentigen Sanktionierung im Einzelfall als möglich an. Auch ein vollständiger Leistungsentzug könne demnach gerechtfertigt sein, wobei seitens des Gerichts auf die Vergleichbarkeit gewisser Fallgestaltungen mit der Situation nicht vorliegender Bedürftigkeit trotz verfügbaren und zumutbar einsetzbaren Vermögens und Einkommens abgestellt wird.

Allerdings, und das ist letztlich die auch in der Presse wahrgenommene Kernaussage dieser Entscheidung für die tagtägliche Jobcenter-Praxis, sind die derzeitigen Regelungen des  SGB-II zu dieser Thematik verfassungswidrig, sofern auf eine starre 30, 60 und 100 Prozent Minderung abgestellt wird, die zudem in zeitlicher Hinsicht starr festgelegt ist.

Dies bedeutet, dass über 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfes hinausgehende Kürzungen als Folge von wiederholten Pflichtverletzungen regelmäßig rechtswidrig sind. Sollte also dennoch eine solche Entscheidung auch jetzt noch durch das Jobcenter ergehen, sollten Sie sich dagegen wehren und Rechtsanwalt Schäfer zur Durchsetzung Ihrer Rechte kontaktieren.

Auch hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vorgesehen, dass eine Verkürzungsmöglichkeit bei entsprechender nachträglicher Mitwirkung des sanktionierten ALG-II-Beziehers offensteht. Damit wäre eine Kürzung des Arbeitslosengeldes II, die dann länger als 1 Monat andauert, ebenfalls rechtswidrig.

Achtung: Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil nicht über sämtliche Arten von Pflichtverletzungen entschieden. So waren insbesondere Meldeversäumnisse und Pflichtverletzungen in Form von unwirtschaftlichem Verhalten, wegen absichtlicher Minderung von Einkommen oder Vermögen mit der Zielrichtung der Begründung oder Erhöhung eines ALG-II-Anspruchs oder im Zusammenhang mit Sperrzeiten beim Arbeitslosengeld I nicht Regelungsgegenstand der Entscheidung. 
Auch betrifft das Urteil nicht die Sonderregelung für Arbeitslosengeld-II-Bezieher, die 24 Jahre und jünger sind.

Dennoch sollte nach Einschätzung der Rechtsanwaltskanzlei Schäfer im konkreten Fall überprüft werden, ob eine für die aufgeführten, nicht betroffenen Fälle ergangene Entscheidung der Jobcenter nicht ebenfalls rechtswidrig ist. Eine Verfassungswidrigkeit auch in diesen Sachverhaltsgestaltungen dürfte wahrscheinlich sein.

Dezember 2019, Rechtsanwalt Marc Schäfer